Kerstin Eisenreich zu TOP 16: Lebensmittelverschwendung stoppen
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit Monaten sorgen steigende Preise bei Energie und Lebensmitteln und die aktuelle Inflationsrate von mehr als 7 Prozent für tiefe Sorgenfalten und Einschränkungen bei vielen Menschen. Dazu haben wir hier im Landtag zahlreiche Debatten geführt und bisherige Lösungen zur Entlastung können die Not für viele Menschen nur zum Teil lindern. Gleichzeitig erreichen uns immer neue Meldungen von Allzeitrekordpreisen an Getreidebörsen, die dazu führen, dass bis zu einer Milliarde Menschen hungert oder von Hunger bedroht ist. Auf der anderen Seite landen weltweit etwa 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Allein in Deutschland sind das laut einer Studie des Thünen-Instituts jährlich 12 Millionen Tonnen Lebensmittel. Andere Studien, z.B. des WWF, kommen gar auf 18 Millionen Tonnen. Bei 54,5 Millionen Tonnen Nahrungsmittelverbrauch ist dies fast ein Drittel. Dabei wären fast 10 Millionen Tonnen dieser Abfälle vermeidbar. Das heißt: Pro Sekunde landen unnötigerweise 313 Kilo genießbare Lebensmittel im Müll, über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg – von der Erzeugung bis zu den Verbraucher*innen. In privaten Haushalten werden durchschnittlich pro Kopf und Jahr mehr als 75 kg Lebensmittel weggeworfen, mehr als die Hälfte des Gesamtaufkommens.
Auf den ersten Blick scheint es daher nachvollziehbar, dass sich Bund und auch Länder bisher darauf konzentrieren, Verbraucher*innen aufzuklären und zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen anzuhalten. Dies bleibt jedoch einseitig, denn einige Abfälle gehen auf den Handel zurück, weil zu große nicht bedarfsgerechte Verpackungen angeboten werden und immer noch das Motto gilt: Je mehr Ware abgenommen wird, umso günstiger wird es. Mit dieser Herangehensweise werden wir nicht das von der UN-Vollversammlung mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beschlossene Ziel erreichen, Nahrungsmittelverluste und -verschwendung entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu halbieren. Dazu gehört auch, dass die Angabe des Mindesthaltbarkeitsdatums auf Lebensmitteln dazu führt, dass Menschen noch genießbare Lebensmittel wegwerfen, ohne erst zu prüfen, ob sie nicht doch noch verwertbar sind. Hinzu kommt, dass diese Angabe häufig nicht realistisch ist, weil viele verschlossene Lebensmittel deutlich länger haltbar sind. Daher unser Vorschlag, künftig für bestimmte Produktgruppen nur noch mit dem Ablaufdatum zu arbeiten.
Allein bei der Erzeugung in der Landwirtschaft fallen etwa 12 Prozent Lebensmittelabfälle an. Teilweise wird Gemüse auf den Äckern untergepflügt, noch bevor es geerntet wird, weil es nicht verkauft werden kann, also den Handelsvorstellungen nicht entspricht. Bei der Verarbeitung sind es 18 Prozent Lebensmittelabfälle bzw. -verluste, die durch falsche Lagerung, Transortschäden und technische Ursachen entstehen, aber auch dadurch, dass zum Beispiel bei einem Chargenwechsel in Molkereien die Leitungen statt mit Wasser mit dem neuen Produkt gespült werden. Beim Außer-Haus-Verzehr entstehen etwa 14 Prozent der Lebensmittelabfälle.
Im Einzelhandel kommen 4 Prozent, etwa 500.000 Tonnen hinzu, wobei hier z.B. nicht die Retouren berücksichtigt werden. Der Wert dieser Lebensmittel beläuft sich etwa auf 4,1 Milliarden Euro! Es gibt aber auch andere Zahlen, zum Beispiel vom WWF, die im Handel insgesamt von fast 2,6 Millionen Tonnen ausgehen, wobei davon 90 Prozent vermeidbar wären. Die Ursachen hier sind wiederum vielfältig: Ein verdorbenes Stück Obst im Netz oder Kiste, und das gesamte Netz oder Kiste fliegen in den Müll. Krummes, angestoßenes, zu großes, zu kleines Obst und Gemüse werden aussortiert. Warenregale zum Beispiel Backwaren werden bis zum Ladenschluss immer wieder voll aufgefüllt – vermeintlich, weil die Kund*innen dies so wollen – werden aber häufig am nächsten Tag nicht mehr verkauft und landen im Abfall. Immerhin finden sich Supermärkte und auch Einzelhändler, die Teile dieser unverkauften Waren als Spenden an soziale Einrichtungen bzw. Wohltätigkeitsorganisationen weitergeben. Aber eben auf freiwilliger Basis. Und in der gegenwärtigen Situation, in der immer mehr Menschen in unserem Land auf die Tafeln angewiesen sind, gehen diese Spenden gerade zurück. Im Übrigen wird nur etwa ein Viertel als 125.000 Tonnen weitergereicht.
Andere Länder, wie Frankreich und Tschechien haben sich bereits vor Jahren für eine gesetzliche Regelung entschieden, und verpflichten Lebensmittelmärkte ab einer bestimmten Größe zur Weitergabe an soziale Einrichtungen. Ich finde, diesen Schritt sollten wir in der Bundesrepublik ebenfalls gehen. Einen ersten Anlauf hatte unsere Fraktion bereits in der letzten Legislatur unternommen. Und in der damaligen Anhörung hatte sich der Beauftragte für „Brot für die Welt“ der Diakonie Mitteldeutschland in seiner Stellungnahme deutlich für eine bundesweite gesetzliche Regelung bis spätestens 2020 ausgesprochen. Doch bis heute hat sich da nichts getan!
Hinzu kommt, dass Wohltätigkeitsorganisationen wie die Tafeln derzeit nicht nur mit einem viel größeren Ansturm von bedürftigen Menschen und weniger verfügbaren Lebensmitteln konfrontiert werden, sondern zugleich die Kosten für Strom und Kraftstoff längst aus dem Ruder gelaufen sind, sodass die ohnehin nur auf Spendenbasis und überwiegend ehrenamtlich arbeitenden Tafeln längst in finanzielle Not geraten. Hier sehen wir das Land in einer besonderen Verantwortung und wollen daher, dass sie kurzfristig unterstützt werden, um ihnen den Aufbau und die Unterhaltung der Infrastruktur für Transport und Lagerung unbürokratisch zu ermöglichen.
Viele Menschen sind sich bewusst, dass Lebensmittel wertvoll sind und vielleicht auch gezwungen, sich aus Lebensmittelabfällen noch Genießbares herauszusuchen. Doch noch immer wird das sogenannte Containern strafrechtlich verfolgt, obwohl sich auch mehr als 80 Prozent der Menschen dafür ausspricht, das Retten noch genießbarer Lebensmittel aus der Mülltonnen zu erlauben.
Neben den auf der Bundesebene notwendigen und in unserem Antrag geforderten Maßnahmen, benötigen wir dringend als Land eine eigene Strategie zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen, die alle Akteure vom Acker bis zum Teller einbindet und konkrete Vorschläge, Maßnahmen und Unterstützungsformen erarbeitet. Andere Bundesländer sind da schon ein ganzes Stück weiter.