Diese Website verwendet Cookies. Warum wir Cookies einsetzen und wie Sie diese deaktivieren können, erfahren Sie unter Datenschutz.
Zum Hauptinhalt springen

Eva von Angern zu TOP 12: Aktuelle Debatte Mehr Fortschritt wagen! Was bedeuten Regierungsbildung und Koalitionsvertrag im Bund für die Zukunftschancen Sachsen-Anhalts?

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Mehr Fortschritt wagen!“ Das ist das Leitmotiv des Koalitionsvertrages von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Welch Überraschung, dass Sie sich nicht für „Mehr Rückschritt wagen!“ entschieden haben. Fortschritt, dass ist das, was grundsätzlich alle Parteien wollen, sagt also erstmal noch nichts. Das Leitmotiv erinnert an das berühmte Zitat aus Willy Brandts erster Regierungserklärung als Bundeskanzler im Herbst 1969:

„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

52 Jahre später sind das „Wir“ und das „Wollen“ unter die Räder gekommen. Das heißt beileibe nicht, dass es keines Wir und keines Wollens bedürfte, um die notwendigerweise ehrgeizigen Ziele der Koalition auf Bundesebene auch nur annähernd zu erreichen. Die Herausforderungen sind groß. Eine davon ist die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen. Wir schaffen es nur gemeinsam. Bund und Länder und selbstverständlich auch DIE LINKE in den vier Ländern, in denen wir in Regierungsverantwortung stehen.

Die Tatsache, dass die Ampelkoalition als eine erste politische Handlung die epidemische Lage aufgehoben, eine Woche später eine neue Rechtsgrundlage geschaffen, der FDP-Justizminister schon mal für den 20.03. den Freedomday ausgerufen, Herr Lauterbach den Impfmangel für das kommende Jahr verkündet hat und parallel eine Impfpflicht debattiert wird, lässt mich erschüttert zurück.

Liebe SPD, Sie wollen im Bund den Eindruck hinterlassen, dass Sie nichts mit der vorhergehenden Bundesregierung zu tun haben.

Wenn das das auch noch der damalige Vizekanzler in seiner neuen Rolle tut, wird es absurd. So werden Sie an der Aufgabe scheitern. Mit seiner gestrigen Rede hat der Kanzler in der Redelänge die Castroreden erreicht, aber emotional lag die Quote eher bei 10%.

Sehr geehrte Damen und Herren,

nun komme ich aber zu den positiven Dingen: Begrüßenswert ist zunächst, dass der Koalitionsvertrag einiges an überfälliger gesellschaftlicher Modernisierung nachholt. Das Staatsangehörigkeitsrecht soll reformiert werden. Das Wahlalter soll auf 16 Jahren sinken. Gut so! Das ist bereits Realität ind en Ländern, in denen DIE LINKE in Regierungsverantwortung steht.

Für Frauen und Ärztinnen ist es ein wunderbares Signal, dass § 219a StGB endlich gestrichen werden soll. Haben Sie bitte noch mehr Mut und entscheiden Sie für die komplette Selbstbestimmung von Frauen.

Als Mitglied des Netzwerkes gegen Kinderarmut begrüße ich im Besonderen die geplante Einführung der Kindergrundsicherung. Eine langjährige Forderung meiner Partei. Insofern kann ich mich bei allen Vertretern hier in diesem Haus herzlich bedanken, die sich in diesem Netzwerk engagieren und erinnere gern an die hochkarätig bundespolitisch besetzte Diskussion im Rathaus. Solches Engagement wirkt! Die Kindergrundsicherung wird nur dann für Geringverdiener eine Verbesserung darstellen, wenn ihre Höhe die Höhe des Kindergelds deutlich übertrifft. Für Familien mit Hartz-4-Bezug bedeutet das, dass die Kindergrundsicherung nur dann eine Verbesserung bewirkt, wenn ihre Höhe den bisherigen Regelsatz übersteigt. Das alles ist ganz klar ein gesellschaftspolitischer Fortschritt zum vorhergehenden Koalitionsvertrag. Wie wir aus Erfahrungen wissen, reicht zuweilen auch keine Festschreibung im Koalitionsvertrag. Wir erinnern uns an die traurige Debatte der Kinderrechte im Grundgesetz, die es bis heute nicht gibt!

Gehen Sie daher davon aus, dass wir Sie an Ihren Taten messen werden! Wie bei Bündnissen mehrerer Parteien nicht überraschend, mussten Sie auch Kompromisse schließen. Überraschend ist es allerdings dann, wenn einer der Partner oder zwei vorher mehr oder minder kategorisch diese im Wahlkampf noch ausgeschlossen haben. Einige Beispiele sollen hier genannt werden: das Tempolimit kommt nicht, Steuererhöhungen kommen nicht, höhere Belastungen für Superreiche kommen ebenfalls nicht und die Schuldenbremse bleibt.

Finanz- und haushaltspolitisch ist dieser Koalitionsvertrag ein Offenbarungseid! Keine Entlastung für kleine und mittlere Einkommen, obwohl alle drei Parteien das im Wahlkampf versprochen haben. Keine Vermögenssteuer, die uns hier im Land und unseren Kommunen geholfen hätte, die wir dringend brauchen!

Unterm Strich lässt sich sagen: Sie wollen das Land moderner und liberaler machen, aber die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich wird bleiben. Für Verbesserungen der sozialen Lage der Arbeitenden wird sicher die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sorgen. Doch was ist aus der Bürgerversicherung geworden? Was bedeutet in der Realität die Vereinbarung der „stabilen Renten“? Das bedeutet für uns in Sachsen-Anhalt ganz konkret: Altersarmut, denn Armut trägt ein ostdeutsches, weibliches Gesicht. Wir brauchen keine Stabilität, wir brauchen höhere Renten!

Wir brauchen dringend eine große Rentenreform und eine Steuerreform. Hinzu kommt, dass über fünf Millionen Beziehende von Hartz 4 weitgehend leer ausgehen, denn materielle Verbesserungen gibt es kaum.

Eine Umbenennung ist keine Verbesserung!

Auf die längst überfällige Einsicht der Politik, dass Menschen ihre Würde nicht durch ständig drohende Sanktionen genommen werden dürfe, müssen diese Menschen weiter warten.

Backt man kleine Brötchen, dann ließe sich zumindest feststellen, dass es die Ampel-Koalition nicht beabsichtigt, gesellschaftliche Modernisierung mit sozialem Rückschritt zu verbinden. (Wie es das Markenzeichen des rot-grünen Reformprojekts unter Schröder und Fischer ab 1998 gewesen ist.)

Wenn man jedoch in Rechnung stellt, dass alles von der Aufgabe überwölbt wird, Deutschland so umzugestalten, dass 80 Millionen Menschen in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt klimaneutral leben können, ohne den Wohlstand der Menschen substantiell zu gefährden, ohne die soziale Spaltung im Land zu vertiefen und Zusammenhalt, Demokratie und Rechtstaat aufs Spiel zu setzen, kommen an dieser These Zweifel auf.

Das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen und zu gewährleisten, wird das Leben nahezu eines jeden und einer jeden Einzelnen auf dramatische Weise verändern. Dies wird die sozial ohnehin schon tief gespaltene Gesellschaft weiter spalten, wenn die Kosten der Klimawende auf die Modernisierungsverlierer abgewälzt werden sollten.

An dieser Herausforderung und am Koalitionsvertrag gemessen, wird diese Koalition gesellschaftspolitisch scheitern. Über eine einmalige Anpassung des Mindestlohns und die soziale Abfederung des Kohleausstiegs hinaus findet keinerlei Umverteilung statt – keine Steuer zur Belastung der besonders großen Vermögen im Land, keine Erhöhung der Einkommenssteuer für Besserverdienende, keine steuerliche Entlastung von Geringverdienenden, keine sozial gerechte Änderung des Erbschaftssteuerrechts.

An die Adresse von SPD und Grüne gerichtet – die FDP vertritt andere Interessen – sage ich:

Wo an der Verteilungspolitik nichts geändert wird, vergrößert sich die soziale Ungleichheit im Land automatisch.

Ich habe die große Sorge, dass diese Gewissheit unter den Bedingungen der gewaltigen, notwendigerweise alles umstürzende klimapolitischen Veränderung unserer Gesellschaft ungeahnte Dimensionen erreichen wird. Die Schere zwischen Arm und Reich wird weiter aufgehen.

Wir müssen begreifen, dass das Wagnis des alternativlosen klimapolitischen Wandels vor allem eines sein wird: ein soziales Wagnis. Schauen Sie in die USA und erinnern Sie sich an die Entwicklungen, die zum Wahlsieg Trumps 2016 geführt haben:

Nancy Fraser spricht von einer quasi halbierten Sozialpolitik der USA: Hier die sehr bürgerlich geprägte sozialpolitische Allianz des progressiven Liberalismus mit den neuen sozialen Bewegungen wie Feminismus, Antirassismus, mit der modernen digitalen Finanzwirtschaft und etwa der kommerzialisierten Kulturbranche, da die Arbeiter im sog. industriellen Rostgürtels der USA, die links liegen gelassen worden sind und werden, während sie früher eine Bastion der sozialen Demokratie im New Deal gewesen sind. Als LINKE werden wir immer und immer wieder die Interessen der unteren Mittelklasse und der sozial bereits Abgehängten in den politischen Diskurs tragen. Um zugespitzt mit Willy Brandt zu sprechen: „Wo Hunger herrscht, herrscht kein Friede!“. Wo bestehende Gräben in der Gesellschaft tiefer zu werden drohen und neue hinzukommen werden, sind gesellschaftspolitische Brücken dringend nötiger denn je.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.