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Birke Bull zu TOP 08: Gendersensible Gestaltung von Bildungsprozessen in den allgemeinbildenden Schulen

Ein Blick auf die individuellen Bildungserfolge von jungen Menschen, von Mädchen und Jungen, von jungen Männern und jungen Frauen, stellt wie kaum ein anderer Bereich Fragen an eine moderne Geschlechterpolitik. Uns alle müssen zwei Befunde nachdenklich machen.

Zum einen scheinen Jungen den Anschluss an formale Bildungserfolge zu verlieren. Wenn man sich zunächst einmal den Bereich der allgemeinen Schulen ansieht, dann stellt man fest: Es erreichen deutlich weniger Jungen als Mädchen das Abitur oder den erweiterten Realschulabschluss. Und viel zu viele Jungen schaffen es nur bis zum Hauptschulabschluss. Ich denke, man kann sagen: Je höherwertig ein Schulabschluss ist, desto geringer ist der Anteil von Jungen, und je problembeladener ein Schulabschluss ist, desto größer ist der Anteil von Jungen.

Noch weitaus größere Probleme offenbart ein Blick in den Bereich der Förderschulen: Zirka 60 % der Schülerinnen und Schüler an den Schulen für Lernbehinderte sind Jungen. Zirka 70 % der Schülerinnen und Schüler an den Schulen für Kinder mit geistigen Behinderungen sind Jungen. Und nahezu 90 % der Schülerinnen und Schüler, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung beschieden wird, sind Jungen.

Mir ist neulich eine veröffentlichte Promotion in die Hände geraten, die das Problem zuspitzt, aber auf den Punkt bringt: „Gute Jungs kommen an die Macht, schlechte an die Sonderschulen.“
Man kann es auch sachlicher formulieren, indem man sagt: Jungen sind sehr viel stärker als Mädchen von der mangelnden Integrationsfähigkeit der allgemeinen Schulen betroffen. 

Zum zweiten Befund. Mädchen können nach einem erfolgreichen Abschluss ihrer schulischen Laufbahn diesen Erfolg nicht fortsetzen. Die Benachteiligung von Frauen und Mädchen ist hier sehr oft thematisiert worden. Ich will nur einige wenige Stichworte nennen.

Stichwort Berufswahlverhalten: Wenn man sich das in Sachsen-Anhalt ansieht, dann sieht man ein extrem schmales Spektrum, durchweg orientiert auf schlechter bezahlte Berufe und mit durchweg deutlich schlechteren Chancen in der späteren Karriere. Die Personalentwicklung in der Schule ist exemplarisch dafür. Kita und Grundschule zeigen sich als so genannte Frauendomänen, was ich, nebenbei gesagt, aus pädagogischer Sicht als hoch problematisch empfinde, weil viele Jungs, die in die Kita oder in die Grundschule gehen, gar nicht mehr die Möglichkeit haben, sich auch mit Männerrollen auseinanderzusetzen. Das halte ich für eine ganz schwierige Angelegenheit.
Sekundarschulen und Gymnasien sind zwar noch größtenteils, aber nicht mehr ausschließlich Frauendomänen. Männerdomänen sind wiederum Schulleitungen. 

Umgekehrt proportional dazu verhält sich die Einkommenssituation und damit auch die Wertschätzung der Arbeit in der Gesellschaft. Das erlaubt eine Aussage darüber, wie viel uns die Arbeit einer Erzieherin in der Kindertagesstätte wert ist und wie viel uns die Arbeit des Rektors eines Gymnasiums, eines Schulleiters wert ist.
 

Ein Blick in die Wissenschaft fördert ähnliche Ergebnisse zutage: In den naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen, vor allem im Bereich Informatik, sind Mädchen nicht nur unterrepräsentiert, sondern schlichtweg die Ausnahme. Ich empfinde das als einen Verlust, den wir uns einfach nicht leisten können und auch nicht leisten sollten.

In den sozialen und sozialwissenschaftlichen Studiengängen sind es wiederum deutlich weniger Jungen, was auch in deren eingeschränkte Berufswahl mündet. Der Anteil der von jungen Frauen erreichten Promotionen und Habilitationen beträgt in etwa zwischen 30 und 40 % und ist rückläufig. Bei den Professorinnen, wiederum ein altes Spiel, quält sich der Frauenanteil mühsam in den zweistelligen Bereich. Auffällig ist das vor allem in den Bereichen, in denen Frauen die Mehrheit der Studierenden ausmachen.

All das korrespondiert durchweg mit unterschiedlichen Einkommensstrukturen und unterschiedlichen Karrierechancen in der beruflichen Entwicklung. Frauen verdienen ca. 23 % weniger. Wenn man das einmal in ein Bild transportiert, heißt das, dass sie von Januar bis März umsonst arbeiten müssen.

All das ist in den vergangenen Jahren sehr oft beklagt worden und nicht neu. Neu sind auch nicht die Befunde in dem Bericht des Aktionsrates Bildung vom letzten Freitag zu den Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem. Ich gebe aber gern zu, dass sie helfen, das Problem zu thematisieren. Neu ist lediglich, dass Jungen in den Fokus der Debatte über die geschlechtergerechte Bildung gerückt sind, wenngleich auch dieser Fakt schon mehr als zehn Jahre alt ist.

Alle diese Tatsachen stellen natürlich auch, aber nicht nur, Fragen an die Schule. Was passiert dort pädagogisch bzw. was passiert dort eben nicht? Ich setze voraus, dass die These, Jungen und Mädchen seien nun einmal verschieden und das sei biologisch bedingt usw. usf., nur noch in einigen wenigen CSU-Ortsvereinen mehrheitsfähig sein dürfte. Ich glaube, so platt kann man auch nicht mehr bei den Kollegen Konservativen daherkommen, das will ich Ihnen gern zugestehen.

Spätestens mit der Debatte über Gender-Mainstreaming ist das soziale Geschlecht in den Mittelpunkt gerückt. Ich erinnere an dieser Stelle an das leidenschaftliche Plädoyer des Herrn Staatsministers Robra für Gender-Mainstreaming, damals im Jahr 2002. Seine Botschaft war damals allgemeine Begeisterung und Tatendrang. Ich denke, man muss schon ein Faible für ganz kleine Dinge haben, um davon irgendetwas bemerkt zu haben.

Das soziale Geschlecht verweist darauf, dass Jungen auch zu Jungen gemacht werden, und das Mädchen auch zu Mädchen gemacht werden. Wenn das so ist, dann ist auch Schule daran beteiligt. Auch sie reproduziert ungerechte Geschlechterverhältnisse. Ich will gern zugeben, dass sich daraus ausgesprochen schwierige Fragen ergeben: Wie geht man mit biologischen Geschlechterdifferenzen um? Wie können geschlechterstereotype Zuweisungen abgebaut oder gar vermieden werden?

Das Gebären eines Kindes ist biologisch bedingt, das Füllen der Waschtrommel aber nicht ‑ soviel zum Nachholbedarf. Vor allem geht es natürlich um die Frage: Wie gelingt es, die offensichtlichen und die nicht so offensichtlichen Ungerechtigkeiten in den Geschlechterverhältnissen abzubauen? Die Zuständigkeit, gerade was die Waschtrommel und das Gebären von Kindern anbelangt, ist für beide Geschlechter ein Problem.

Seit ungefähr Mitte der 70er-Jahre gibt es in den alten Ländern die Koedukation als Unterrichtsprinzip. In der DDR ist das viel früher beschlossen worden. Es meint nichts anderes, als dass Mädchen und Jungen den Unterricht gemeinsam besuchen. Gewollt war damals, den Abbau der Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern zu befördern. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass das nicht wirklich erfolgreich war. Und wenn etwas nicht erfolgreich ist, dann muss ich mich natürlich fragen, wie die Strategie verändert werden muss.

Das Hauptproblem dieser doch weitgehenden Erfolglosigkeit liegt in der Annahme, man könne dem Problem mit einer Art vermeintlicher Geschlechterneutralität begegnen, die im Grunde genommen nicht wirklich eine solche ist. Sie ist eine Illusion und sie löst die Probleme nicht, weil sie vorhandene Klischees einfach nicht beim Namen nennt und damit fortschreibt und damit Ungerechtigkeiten unangetastet lässt.

Ich will Ihnen das gern an mehreren Beispielen verdeutlichen, damit es klarer wird. Erstens. Natürlich gibt es keine Schulbücher mehr ‑ ich hoffe das zumindest ‑, in denen steht: Mama am Herd, Papa am Auto. Oder meinetwegen: Das zentrale Nervensystem müssen sie sich ungefähr wie das Einkaufsnetz Ihrer Mutti vorstellen. Es gibt aber auch nur sehr wenige Schulbücher, die sich eben kritisch mit diesen tradierten Geschlechterrollen aktiv auseinandersetzen. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich hätte lieber die Klischees im Schulbuch und dafür eine Debatte, die sich damit auseinandersetzt und Jungen und Mädchen auch aus ihrer Geschlechterrolle herauslockt.

Das zweite Beispiel. Wir haben die Landesregierung gefragt, wie viele Schülerinnen und Schüler in Sachsen-Anhalt eine Klassenstufe wiederholen müssen. Das ist ja in unmissverständlicher Weise ein Indikator für Lernprobleme ‑ keine Frage. Der geschlechterneutrale Blick offenbart, dass ca. 3,8 % der Schülerinnen ‑ mit großem „i“ ‑ an Gymnasien und 6,4 % der Schülerinnen ‑ mit großem „i“ ‑ an der Sekundarschule mindestens einmal eine Klassenstufe wiederholen müssen. Das ist für sich genommen schon ein ärgerlicher Vorgang, weil Sachsen-Anhalt damit neben Bayern und einem weiteren Land den drittletzten Platz einnimmt.

Das eigentliche Problem wird aber erst sichtbar, wenn man sich das Ganze mit einem geschlechtersensiblen Blick ansieht. Es sind nämlich vor allem die Jungen, die eine Klassenstufe wiederholen müssen. Der Anteil der Jungen ist durchweg weit über dem der Mädchen. In der Sekundarschule sind es 5,1 % der Mädchen und 7,5 % der Jungen, die in den Klassenstufen 5 bis 10 eine Klassenstufe wiederholen müssen. In den Gymnasium ist der Anteil der Jungen beinahe doppelt so hoch wie der der Mädchen: 2,8 % der Mädchen, aber 4,8 % der Jungen müssen eine Klassenstufe wiederholen.

Beispiel 3. Wir haben die Landesregierung im Rahmen der Großen Anfrage zur Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung nach der Beteiligung der Mädchen an den naturwissenschaftlich-technischen Wahlpflichtkursen gefragt. Die Antwort der Landesregierung war: Keine Ahnung, die Daten werden nicht erhoben. Und das, obwohl nicht erst seit dem Bericht des Bildungsrates bekannt ist, dass es bisher eben gerade die MINT-Fächer weitgehend nicht schaffen, das Interesse von Mädchen zu wecken. Das ist so, obwohl nicht nur eine Fachkräftemangel bekannt ist, sondern ein Mangel an technisch interessierten und technisch versierten jungen Frauen und Mädchen und obwohl der Anteil der weiblichen Studierenden in diesem Bereich eher eine zu vernachlässigende Größe ist.

Geschlechtsneutrale Statistiken machen die eigentlichen Probleme unsichtbar. Ich will an der Stelle sagen, dass dies eine Debatte ist, die wir in genau dieser Form vor mindestens 15 Jahren, damals noch unter aktiver Beteiligung der Kollegin Fischer aus der SPD-Fraktion, geführt haben.

Das Problem des Schulabbruchs wird in den Medien durchweg geschlechtsneutral problematisiert und geht damit am Problem vorbei; denn 75 % der Schülerinnen und Schüler, die die Schule abbrechen, sind Jungen.

Die Frage lautet also, warum sind es vor allen Dingen Jungen, die meinen, ihre Probleme auf diese Art und Weise lösen zu können, was natürlich nicht so ist. Viel interessanter ist aber, warum es die Schulpädagogik nicht schafft, auch diese Schüler, diese Jungen, zu gewinnen und zum Schulerfolg zu führen.

Vermeintliche Geschlechtsneutralität verkleistert die Probleme und macht sie unsichtbar und ist allein deshalb untauglich für eine wirkliche Problemlösung. Wir brauchen stattdessen eine geschlechtersensible Bildungspolitik und eine geschlechtersensible Pädagogik, die sich mit den tatsächlich unterschiedlichen Erfahrungswelten von Mädchen und Jungen auseinandersetzt und sie zur Kenntnis nimmt, aufgreift und vor allem aber auch nutzt. Ich will das ganz deutlich sagen, um jegliches Missverständnis zu vermeiden: Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern um Chancengleichheit.

Wenn ich etwas gleichberechtigt behandeln will, dann muss ich es zunächst in seiner Unterschiedlichkeit zur Kenntnis nehmen. Und das, was dann noch übrig bleibt von „typisch weiblich“ und „typisch männlich“ ist und bleibt eine spannende Frage, aber ich halte sie derzeit nicht für die entscheidende.

Reflexive Koedukation meint eine Bildung, eine Bildungspolitik, eine Pädagogik, die die Kategorie Geschlecht wahrnimmt und damit umgeht und diese zur Sprache bringt. Das ist in der Erziehungswissenschaft ein alter Hut ‑ das gibt es seit 20 Jahren oder schon seit, glaube ich, 30 Jahren ‑, allerdings ist es in der Schulverwaltung noch immer Neuland. Das finde ich höchst problematisch.

Die Geschlechterfrage wird zur Schlüsselfrage, wenn wir uns darum kümmern, mit Vielfalt und Individualisierung in der Schule produktiv umgehen zu wollen. Das ist ein Paradigma, zu dem sich der Bildungskonvent sehr intensiv verhalten und zu dem er auch Beschlüsse gefasst hat.

Ich will ganz deutlich sagen, dass das, was mit unserem Antrag vorliegt, natürlich eine konzentrierte Form ist. Jeder weiß, dass es nur in kleinen Schritten geht. Das ist keine Frage. Es geht auch nur in homöopathischen Dosen.

Es geht auch nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass dort eine ganze Reihe von Dilemmata warten. Das Ganze birgt auch Gefahren und bewegt sich immer auch ein Stück weit zwischen Zuschreibung und Aufhebung.

Wenn man es immer wieder thematisiert, schreibt man das so genannte Typisch-Weibliche und das so genannte Typisch-Männliche immer wieder neu zu. Das ist eine Gefahr, der ist aber nicht zu entgehen.

Wir haben den Antrag gestellt, weil wir in Sachsen-Anhalt in jedem Fall die Konzeptionslosigkeit beenden müssen. Wir brauchen ein schulpolitisches Konzept, das die geschlechterbedingte Ungleichheit zunächst erst einmal sichtbar macht ‑ das letzte Konzept ist aus dem Jahr 2002 ‑ und sich auch mit den unterschiedlichen Problemlagen von Geschlechtern auseinandersetzt, nämlich von Mädchen und von Jungen.

Kollege Rothe hat vorhin gesagt, dass eine Statistik nur ein Hilfsmittel sei. Deswegen ist das Wichtigste dabei, dass wir ein schulpolitisches Konzept brauchen, welches letztlich zur Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen und von Jungen beiträgt. In diesem Sinne beantragen wir die Überweisung des Antrags an die Ausschüsse für Bildung und für Soziales.